Denken ohne Geländer – Was Führung mit Hannah Arendt zu tun hat

Wenn Klarheit plötzlich stumm macht

Neulich im Coachingraum. Eine Bereichsleiterin sitzt mir gegenüber, der Blick entschlossen, die Stimme ruhig, fast stoisch. Sie sagt: „Ich muss mich jetzt endlich klar positionieren – das erwarten alle. Mein Team, die Kolleg:innen, der Vorstand.“ Ich frage: „Und was denken Sie?“ Ihre Antwort kommt zu schnell. Glatt. Fertig. Eingerahmt von Schlagwörtern, die nach Außenwirkung klingen, nicht nach Innerem Ringen. Ich lehne mich zurück, lasse die Stille wirken. Nach einigen Sekunden fragt sie leise: „Was, wenn ich selbst nicht mehr weiß, was ich wirklich denke?“

Die Denkerin, die nicht führen wollte – und gerade deshalb führte

Genau in solchen Momenten denke ich an Hannah Arendt. Und an diesen Tag im Herbst 1972, als sie selbst in die Rolle der Befragten geriet. Ein akademisches Kolloquium über ihr Werk – und mittendrin ein Raum voller Studierender, die eine klare Haltung von ihr fordern. Warum bezieht sie keine Position? Warum ergreift sie nicht Partei in einer Zeit voller Krisen? Ihre Antwort ist ebenso entwaffnend wie unbequem: „Commitment kann leicht dazu führen, dass man aufhört zu denken.“ Und dann setzt sie nach, fast schon ironisch: „Der Theoretiker, der seinen Studierenden sagt, wie sie denken und handeln sollen – mein Gott! Das sind doch Erwachsene. Wir sind nicht im Kindergarten.“

Diese Szene erzählt mehr über ihr Verständnis von Denken als so manche Theorie. Für Arendt ist Denken ein Akt der Freiheit – aber auch der Zumutung. Wer sich zu schnell festlegt, verliert die Fähigkeit zur Urteilsbildung. Wer nur reagiert, statt wirklich hinzuschauen, überlässt das Denken den Schlagwörtern. Und das ist gefährlich – nicht nur politisch, sondern zutiefst menschlich.

Transaktionsanalyse: Wenn Wahrnehmung trübt, verliert Führung ihre Tiefe

In der Transaktionsanalyse finden wir ein starkes Resonanzmodell auf Arendts Haltung: die Trübungen. Sie beschreiben, wie unsere Wahrnehmung getrübt wird – durch selektive Aufmerksamkeit, voreilige Interpretation oder alte emotionale Muster. Wenn ich als Coach mit Führungspersonen arbeite, erlebe ich oft genau diese Trübungen. Da wird nicht entschieden, sondern abgesichert. Nicht geführt, sondern performt. Und der innere Kompass? Irgendwo unter einem Berg aus Erwartungen und Strategien vergraben.

Coaching heißt: Denk-Raum statt Positionspapier

In solchen Momenten sehe ich meinen Auftrag nicht, eine neue Haltung anzubieten. Sondern den Denkraum zu öffnen. Ich stelle Fragen, die nicht gefallen wollen. Ich provoziere Pausen. Ich lade ein, in den Erwachsenen-Ich-Zustand zu wechseln – dorthin, wo Urteilskraft entsteht. Und manchmal reicht ein Satz: „Wenn Sie sich nicht äußern müssten – was würden Sie denken?“ Plötzlich entsteht eine Lücke. Und in dieser Lücke taucht etwas auf, das nicht glatt ist, nicht fertig. Aber echt.

Führung beginnt dort, wo das Denken wieder anfängt

Coaching ist kein Ort für schnelle Antworten. Es ist ein Raum, in dem Denken wieder möglich wird – jenseits von Parteinahme, Ideologie oder moralischer Erpressung. Genau das wollte Arendt vermitteln. Nicht Feigheit, sondern Freiheit. Nicht Beliebigkeit, sondern die Kunst, sich dem Denken selbst zuzumuten.

Was daraus entsteht, ist oft leise und es hat Gewicht. Es verändert – nicht nur das Verhalten, sondern die Haltung dahinter. Führung wird dann nicht zur Funktion, sondern zur Einladung: an sich selbst, und an andere.

Weniger Meinung, mehr Mut zur Leere

Vielleicht braucht es heute genau das: weniger Meinung. Und mehr Mut zur Leere. Damit Neues entstehen kann – im Denken, im Fühlen, im Führen.