Digital effizient – emotional dysfunktional?

Wie Coaching Beziehungskompetenz stärkt, wenn KI den Takt vorgibt

Eine Führungskraft zwischen Dashboards und Dialog

„Ich schaue auf Zahlen, nicht mehr in Gesichter.“ Mit diesem Satz beginnt das Coaching mit Frau L., Bereichsleiterin in einem Unternehmen, das gerade KI-gestützte Prozesse ausrollt. Produktivität, Reaktionszeiten, Pausenmanagement – alles sichtbar, alles messbar. Früher war der Gang in die Kaffeeküche ihr sozialer Radar. Heute öffnet sie Dashboards. Sie spart Wege und verliert – fast unbemerkt – Begegnung. Im Podcast „Digital effizient – emotional dysfunktional?“ beschreiben wir genau diese Verschiebung: Technologie macht Tempo, Beziehung braucht Taktgefühl.

Im ersten Gespräch zeigt sich: Schon vor der KI fiel es Frau L. schwer, Konflikte anzusprechen und echte Nähe im Team zuzulassen. Die neuen Tools legitimieren Distanz – „Die Daten sagen doch…“ –, und verstärken ein gewohntes Muster: Kontrolle statt Kontakt. Genau hier setzt Coaching an.

Was die KI wirklich verstärkt: Haltung vor Technik

Unsere Podcast-These: KI transformiert nicht nur Prozesse, sie verstärkt vorhandene Haltungen – Zuwendung ebenso wie Zynismus. In Coachings sehe ich drei wiederkehrende Muster:

(1) Selbstabwertung im Vergleich mit Systemen. Wenn das Tool schneller schreibt, fühlt man sich zu langsam – ein Echo klassischer Antreiberdynamiken wie „Sei perfekt!“ oder „Beeil dich!“ (Kahler, 1975; Berne, 1961).

(2) Passivität durch Delegation. Urteilsbildung wandert an Scores und Ampeln, ganz im Sinn der TA-Passivitätsphänomene (Schiff & Schiff, 1971).

(3) Kontaktarmut trotz Kommunikation. Hohe Frequenz, geringe Resonanz: Es wird informiert, aber selten begegnet (Hargaden & Sills, 2002; Summers & Tudor, 2000).

Philosophisch gesprochen: Wir wissen immer mehr und verstehen uns gleichzeitig seltener. Simone Weils Idee von Aufmerksamkeit als einer besonders hohen Form der Zuwendung erinnert daran, dass echtes Wahrnehmen Zeit und Mut braucht (Weil, 1952). Und auch Selbstbestimmungstheorie hilft: Menschen blühen auf, wenn Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit zusammenwirken – nicht, wenn eine Dimension die anderen dominiert (Deci & Ryan, 2000).

So wirkt Coaching: Resonanz statt Rausch

Am Anfang steht ein klarer Kontrakt: Woran genau merkt Frau L., dass wieder Beziehung im Spiel ist? (Berne, 1961; Hargaden & Sills, 2002). Wir vereinbaren Mikro-Indikatoren, die kein Dashboard liefert: eine echte Rückfrage im Jour fixe, bewusster Blickkontakt in heiklen Gesprächen, zehn Sekunden Schweigen vor jeder Entscheidung. Im Podcast nenne ich das „den zweiten Gedanken kommen lassen“.

Dann differenzieren wir Ich-Zustände. Wenn Frau L. mit Kennzahlen argumentiert, klingt oft das kritische Eltern-Ich – präzise und unverbunden. Wir trainieren das Erwachsenen-Ich: Welche alternativen Deutungen gibt es jenseits der Zahlen? Welche Hypothesen prüfen wir zuerst? (Berne, 1961; Hargaden & Sills, 2002).

Mit der Abwertungsmatrix (Schiff & Schiff, 1971) kartieren wir, was übersehen wird: eigene Gefühle, die Wirkung auf andere, vorhandene Optionen. Jede erkannte Abwertung bekommt eine Gegenhandlung: „Ich sehe gute Zahlen – und frage mich, wie es Ihnen wirklich geht.“ Die Antreiber-Arbeit bringt Luft ins System: Erlaubnissätze wie „Ich darf mir Zeit nehmen, um zu verstehen“ oder „Ich kläre zuerst Beziehung, dann Aufgabe“ verschieben den inneren Takt (Kahler, 1975; Goulding & Goulding, 1979).

Schließlich kultivieren wir Lebenspositionen: Ich bin OK – Du bist OK als Führungsgrundhaltung, auch wenn Technologie den Raum strukturiert (Ernst, 1971). Die ko-kreative Perspektive der TA versteht Beziehung als gemeinsamen Prozess – mit Menschen und Tools im selben Raum (Summers & Tudor, 2000).

Der „Stopp-Dialog“: Drei Minuten, die Termine verändern

Aus dem Podcast habe ich ein Mikroformat abgeleitet, das Teams schnell übernehmen:

  1. In welcher Haltung bin ich gerade? (Check der Lebensposition; Ernst, 1971)
  2. Welche Erlaubnis ist zu leise? (Arbeit an Antreiberdynamiken/Erlaubnissen; Kahler, 1975; Goulding & Goulding, 1979)
  3. Welche Form von Anerkennung fehlt? (Strokes jenseits von Leistung; Berne, 1961; Hargaden & Sills, 2002)

Drei Fragen, drei Minuten – und oft kippt der Ton im Meeting: Tempo sinkt, das Gegenüber wird wieder ein Subjekt, Entscheidungen bekommen Kontext.

Kurz & nützlich: Ein neuropsychologischer Blick

Warum fühlt sich das gut an? Unser Nervensystem liebt Vorhersagbarkeit und Beziehung. Schnelle KI-Antworten liefern Mini-Belohnungen; stabile soziale Einbettung reguliert und erdet (Siegel, 2010). Coaching koppelt beides: Klarheit in der Sache, Verbundenheit im Stil.

Zurück zu Frau L.: Kleine Sätze, große Wirkung

Nach einigen Sitzungen etabliert Frau L. zwei neue Leitfragen vor jedem Zahlen-Review:

  1. „Wen habe ich heute noch nicht gesehen, obwohl ich viele Daten gesehen habe?“
  2. „Was braucht unser Miteinander – nicht nur unser Output?“ Die KI bleibt. Der Umgang verändert sich. Wochen später berichtet das Team: „Wir sprechen wieder miteinander, nicht bloß über Ergebnisse.“ Das klingt schlicht – und wirkt tief.

Philosophischer Ausklang (mit Augenzwinkern)

Hannah Arendt erinnert daran, dass Denken Verantwortung gebiert – besonders dort, wo Systeme verführen (Arendt, 1978). Simone Weil lädt zur radikalen Aufmerksamkeit ein (Weil, 1952). Und wenn Kierkegaard recht hat, dass Leben vorwärts gelebt und rückwärts verstanden wird, dann ist Coaching der geschützte Vorwärtsraum: Wir leben, prüfen, justieren – in Beziehung. Oder, um den Podcast zu zitieren: „Nutze die Tools. Bleib in Beziehung – zu dir, zu anderen, zum Leben.“


Literatur

Arendt, H. (1978). The life of the mind. New York, NY: Harcourt.

Berne, E. (1961). Transactional analysis in psychotherapy. New York, NY: Grove Press.

Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). The “what” and “why” of goal pursuits: Human needs and the self-determination of behavior. Psychological Inquiry, 11(4), 227–268.

Ernst, F. H. (1971). The OK Corral: The grid for get-on-with. Transactional Analysis Journal, 1(4), 231–240.

Goulding, R. L., & Goulding, M. M. (1979). Changing lives through redecision therapy. New York, NY: Brunner/Mazel.

Hargaden, H., & Sills, C. (2002). Transactional analysis: A relational perspective. London, UK: Routledge.

Kahler, T. (1975). Drivers: The key to the process of transactional analysis. Transactional Analysis Journal, 5(3), 280–284.

Schiff, A. W., & Schiff, J. L. (1971). Passivity. Transactional Analysis Journal, 1(1), 71–78.

Siegel, D. J. (2010). Mindsight: The new science of personal transformation. New York, NY: Bantam.

Summers, G., & Tudor, K. (2000). Co-creative transactional analysis. Transactional Analysis Journal, 30(1), 23–40.

Weil, S. (1952). Gravity and grace. London, UK: Routledge & Kegan Paul.