Wie man sich klug gegen moralischen Absolutismus abgrenzt
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Ihr Sohn sieht sie fassungslos an. Moralischer Absolutismus in Familien – kluge Abgrenzung ohne Trennung fühlt sich genau so an: ein Urteil, das keine Widersprüche duldet. Seine Frau schüttelt den Kopf. Dann dieser Blick, halb Mitleid, halb Ungeduld. „Mama, du hast keine Ahnung.“
Sie spürt, wie ihr Magen sich zusammenzieht. Ihr Sohn, ihr eigener Sohn, behandelt sie, als hätte sie nichts verstanden. Als wäre sie eine von denen, die es einfach nicht begreifen. Ihre Wahlentscheidung? Ein Beweis für Ignoranz. Ihre Argumente? Nicht der Rede wert.
„Ich habe sie großgezogen. Ich habe ihnen beigebracht, Dinge kritisch zu hinterfragen. Und jetzt sagen sie mir, dass ich falsch liege. Dass ich blind bin. Als wäre ich dumm. Als hätte ich nichts verstanden.“
Sie sitzt mir im Coaching gegenüber. „Herr Wehrs, ich will verstehen, wie ich damit umgehen soll. Ich liebe meinen Sohn. Aber ich will mich nicht belehren lassen. Ich will nicht das Gefühl haben, mich für meine Haltung entschuldigen zu müssen.“
Hier sitzt sie. Und es ist eine klassische Coachingfrage: Wie kann man sich abgrenzen, ohne die Verbindung zu verlieren?
Der Kampf um Wahrheit: Moral oder Potency?
„Warum trifft es Sie so?“, frage ich. Sie schaut mich an, zögert. „Weil ich das Gefühl habe, dass sie mich nicht ernst nehmen.“
Das ist der Punkt. Nicht die Wahlentscheidung. Nicht die Politik. Sondern der Autoritätsverlust. Eine Mutter, die um Klarheit bemüht ist, steht plötzlich vor ihrem Sohn, der ihr die Kompetenz abspricht. Das schmerzt. Doch hier beginnt die eigentliche Arbeit. Denn wer sich in einen Kampf um Autorität begibt, hat schon verloren.
„Kann ich mal eine provokante Frage stellen?“ Sie nickt. „Wollen Sie gewinnen? Oder wollen Sie ernst genommen werden?“
Sie schweigt kurz. Dann nickt sie langsam. „Ich will gehört werden. Und ich will, dass sie aufhören, mich zu belehren.“ „Es klingt, als würde hier ein Spiel auf der psychologischen Ebene stattfinden, oder?.“
Moralischer Absolutismus ist ein Spiel – steigen Sie aus
Ihr Sohn und seine Frau haben sich eine moralische Position gebaut. Sie ist klar, eindeutig, ohne Widersprüche. Menschen lieben Klarheit. Ambivalenz macht Angst. Wer eine Wahrheit gefunden hat, verteidigt sie mit Zähnen und Klauen. Doch hier könnte auch eine klassische Falle vorliegen: Moralischer Absolutismus ist eine Einladung zum psychologischen Spiel. Die unbewussten Regeln könnten sein:
• Einer hat recht.
• Der andere liegt falsch.
• Der Sieger definiert die Realität.
Meine Klientin spielt dieses Spiel unbewusst mit. Sie will argumentieren, sie will Beweise liefern. Doch jedes Wort, das sie sagt, verstärkt den Kampf.
„Wenn Sie sich rechtfertigen, bestätigen Sie das Spiel. Wenn Sie kämpfen, dann haben Sie sich bereits untergeordnet.“
Sie atmet aus. „Was soll ich dann tun?“
Erwachsenen-Ich statt Kampfmodus
„Verlassen Sie das Spielfeld. Und stehen Sie als Erwachsene in diesem Gespräch.“
„OK, und wie kann das dann von mir gelebt werden?“ Sie wird neugierig und ich stelle ihr das Strukturmodell der Transaktionsanalyse vor. Sofort kann sie die drei Ich-Zustände mit ihren Gedankne, ihren Gefühlen und Empfindungen verbinden. Sie entwickelt für sich die folgende Strategie:
• Keine Rechtfertigungen.
• Keine Erklärungen, die Zustimmung suchen.
• Keine Erwartung, dass die anderen ihre Haltung anerkennen.
„Wenn Ihr Sohn sagt: ‚Deine Wahlentscheidung ist ignorant!‘, was antworten Sie dann?“
Sie überlegt. Dann sagt ich: „Ich sehe das anders.“
„Und wenn er insistiert?“
Sie hebt die Schultern. „Dann sage ich: ‚Ich habe eine andere Perspektive, und ich bin damit im Reinen.‘“
Ich nicke. „Und wenn sie weiter provozieren?“
Sie schaut mich an. Dann lächelt sie. „Dann wünsche ich ihnen einen schönen Abend.“
Abgrenzung ist Selbstfürsorge, keine Trennung
Moralischer Absolutismus in Familien – kluge Abgrenzung ohne Trennung. Moralischer Absolutismus fühlt sich an wie ein Angriff. Doch eigentlich ist er eine Unsicherheit in Rüstung. Die jungen Leute kämpfen um Klarheit in einer Welt voller Ambivalenz. Das ist verständlich. Doch die Mutter hat das Recht, nicht mitzuspielen. Abgrenzung bedeutet nicht, sich zu entfernen. Es bedeutet, in Kontakt zu bleiben, ohne sich kleinzumachen.
Sie verlässt die Sitzung mit einem klaren Plan. „Ich werde mich nicht verteidigen. Und ich werde ruhig bleiben.“
Ich schaue ihr nach und denke: Das ist Potency. Das ist Selbstfürsorge. Und das ist die Lösung.